Mit Blende f1.25 durchs Berner Oberland

Ende September waren wir wieder einmal für eine Woche im Berner Oberland. Stationiert waren wir wie üblich in Meiringen im SwissPeaks-Resort, einem Apartment-Komplex der REKA gleich neben dem SBB- und Bus-Bahnhof. Also sehr verkehrsgünstig gelegen, nicht nur für die An- und Abreise, sondern auch für Ausflüge. Das Wetter war die ganze Woche prächtig, fast zu schön, manchmal hätte ich mir tatsächlich ein paar fotogene (Schleier-)Wolken an den blauen Himmel gewünscht… 😉

Da ich mit meinen bisherigen fotografischen Ergebnissen des TTArtisan 1.25/90mm nur bedingt zufrieden war, wollte ich hier weitermachen, wo ich in Bologna aufgehört hatte: Testen, testen, testen. Nicht etwa das Objektiv, dessen Stärken und (zahlreiche…) Schwächen kenne ich inzwischen gut, sondern meinen Blick für geeignete Motive. Denn wie ich bereits im TTArtisan-Beitrag erwähnt hatte, ist es überraschenderweise gar nicht so einfach, solche zu finden bzw. zu sehen. Natürlich, ein einzelnes Objekt vor einem entfernten Hintergrund freizustellen, funktioniert immer, aber dafür reicht normalweise auch Blende 2 oder 2.8, der Unterschied ist nur bei direktem Vergleich sichtbar. Bilder hingegen, die mehrere, tiefengestaffelte Objekte/Motive haben, entwickeln mit Blende 1.25 einen regelrechten Sog ins Bild!

Dabei habe ich (bzw. ein Bekannter, dem ich die Bilder gezeigt habe) auch noch einen weiteren Bildfehler des TTArtisan festgestellt. Häufig ist die rechte obere Ecke deutlich schärfer bzw. weniger unscharf als der restliche «out of focus»-Bereich. Ich habe dazu TTArtisan angeschrieben, die mir sinngemäss erklärt haben, dass dies eine leichte Dezentrierung sei, die schwierig 100%ig zu korrigieren sei und deshalb normal… Naja, andere Objektivhersteller kriegen das auch hin, also ist die Bezeichnung «normal» oder im Original «usually present» schon ein bisschen gewagt. Wäre interessant, mal ein anderes Exemplar dieses Objektivs zu testen. Aber eigentlich stören mich alle Abbildungsfehler gar nicht so sehr, ich verbuche es mehr unter «Charakter». Auch das habe ich wohl im TTArtisan-Beitrag schon erwähnt…

Es geht aber nicht nur darum, herauszufinden, was funktioniert, sondern auch, was NICHT funktioniert. Oder anders ausgedrückt: Um die Grenzen des Sinnvollen zu kennen, muss man sie zuerst überschreiten. Konkret heisst das, ich habe gnadenlos 95% aller Bilder in den Ferien mit dem TTArtisan gemacht und davon wiederum gnadenlos 95% mit Offenblende 1.25. Die Konsequenz davon? Dies wird kein üblicher Reisebericht (an Tag  X waren im Ort Y und haben dieses oder jenes unternommen), sondern eher eine Beschreibung meiner Suche nach dem perfekten Motiv 😊 .

Natürlich gibt es zahlreiche Motivbereiche, wo die Priorität auf anderen Parametern liegt als der Blende. Z.B. bei Sportaufnahmen überlegt man sich zuerst, welche Verschlusszeit man möchte bzw. benötigt und die Blende ergibt sich dann in Verbindung mit den ISO so quasi als Nebenprodukt. Eine hohe Anfangsöffnung ist nur indirekt von Vorteil, weil man mehr Reserven für eine kurze Verschlusszeit hat, aber das ist ein anderes Thema.

Paraglider
Hier hatte die kurze Verschlusszeit Priorität, wie weit der Hintergrund unscharf wurde, war zweitrangig
Steinwasser
Auch bei diesem Bild ist die (längere) Verschlusszeit der entscheidende Faktor für die Bildwirkung, die Blende ergibt sich dann in Verbindung mit den ISO von selbst.

Im folgenden ein paar klassische Freisteller: Ein einzelnes Objekt vor einem relativ weit entfernten Hintergrund. Deutliche Separation des Vorder- vom Hintergrundes. Fast dieselbe Bildwirkung wäre allerdings mit Blende 2.0 oder 2.8 auch möglich und wohl nur im direkten Vergleich unterscheidbar.

Alter Baum beim Engstlensee
Schöner alter Baum beim Engstlensee. Nicht nur die offene Blende, auch die Lichtverhältnisse helfen bei der Freistellung
Baumsilhouetten
Auch hier ergänzen sich offenene Blende und Lichtverhältnisse perfekt
Gegenlichtstudie
Dasselbe gilt für dieses Bild
Schafe vor dem Steingletschersee
Zwei lebendige Wollpullover vor dem Steingletscher 😉

Die Freistellung in den oben gezeigten Bildern funktioniert deshalb so gut, weil das Hauptobjekt relativ nah ist und der Hintergrund sehr weit entfernt. Oder anders formuliert: Der Abstand des Hintergrundes zur Kamera beträgt das 10- bis 100-fache des Abstandes des Vordergrunds zur Kamera. Je kleiner dieses Verhältnis, desto geringer die Freistellung. Im Extremfall soweit, dass der Hintergrund zwar noch ein ganz klein wenig unscharf ist, dies aber nicht mehr als Freistellung, sondern als «nicht korrekt scharfgestellt» wahrgenommen wird. Es wirkt dann eher «wie gewollt und nicht gekonnt». In solchen Situationen wäre Blende 5.6 oder 8.0 besser geeignet. Leider ist das auf den folgenden drei Bildern aufgrund der geringen Auflösung hier im Blog nicht so deutlich sichtbar.

Alphütte
Hier lag der Fokus auf der Alphütte rechts im Bild. Die Berge im Hintergrund erscheinen ebenfalls scharf, aber in der Vergrösserung sind sie ganz leicht unscharf. Jedoch so wenig, dass diese Unschärfe keine Tiefenwirkung hat sondern einfach nur stört. In der Web-Auflösung spielt es keine Rolle, möchte man jedoch ein Poster ausdrucken, sieht man das.
Alpine Landschaft
Hier ist es noch schlimmer, denn hier sieht es auf den ersten Blick so aus, als gäbe es nur eine Schärfeebene. In Tag und Wahrheit ist der Vordergrund deutlich näher an der Kamera als die Berggipfel. Umso störender, wenn das Bild gegen unten immer unschärfer wird.
Grindelwald
Auch hier wäre es besser gewesen, ein paar Stufen abzublenden, so dass auch die Häuser im Vordgrund im Schärfebereich gewesen wären

Kommen wir nun zur Königsdisziplin 😉 des offenblendigen Fotografierens, nämlich Motive mit mehreren, separierten, tiefengestaffelten Objekten. Nicht ganz, aber fast so gut sind Bilder mit einem kontinuierlichen Schärfe-/Unschärfeverlauf

Bergwanderweg
Auf dem Bergwanderweg von der Engstlenalp zum Sätteli. Zwar gibt es keine separierten Objekte, aber der Schärfe-/Unschärfeverlauf von der im Fokus stehenden Person zur Bildmitte hin ist schon recht drastisch 🙂
Picknick mit Aussicht
Picknickplatz mit Aussicht vor einer wie gemalt wirkenden Kulisse.
Wald
Spazierweg zwischen Iseltwald und Giessbach. Das Motiv an sich ist jetzt nicht so spektakulär, aber ein gutes Beispiel dafür, was ich mit “mehreren, separierten, tiefengestaffelten Objekten” meine.
Bei Iseltwald
Nur eine scharfe Kante des Felsens und des Wanderweges definieren dieses Bild, der ganze Rest versinkt in Unschärfe und Bokeh. Das ergibt ein 3D Wirkung.
Bei Iseltwald
Auch bei diesem Bild unterstützt die Lichtstimmung den Schärfeverlauf
Bei Iseltwald
Eines meiner Lieblingsbilder. Soviele Objekte und jedes hat einen anderen Schärfegrad. Man meint förmlich in das Bild hineingehen zu können. In grosser Auflösung verstärkt sich diese Wirkung nochmals dramatisch.

Natürlich ist eine so drastische Bildwirkung wie in den oben gezeigten Fotos nicht nach jedermanns Geschmack. Das ist auch völlig OK. Aber immer nur “realistische” Abbildungen der Natur sind halt auch manchmal langweilig und solche Experimente machen Spass und sind erst noch lehrreich.

Welches sind Eure Favoriten?

PS: Ironischerweise ist gerade in den letzten Tagen Lightroom Classic V13.0 erschienen, welches als brandneues Feature eine individuelle Korrektur der Schärfe/Unschärfe erlaubt. Bei den Handys gibts diese Funktion ja schon länger, also war es eigentlich logisch, dass die “grossen” Programme da nachzogen. Im Moment scheint die LR-Funktion jedoch noch ein paar Schwächen zu haben, aber erfahrungsgemäss wird das mit jedem Update besser. Ich weiss ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll. Wenn die Software bald alles besser, schneller, exakter und individueller kann als der Fotograf, geht irgendwann auch der Spass am Hobby verloren 🙁 . Ich muss das in näherer Zukunft wohl mal genau austesten.


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