TTArtisan 1.25/90mm

Nach längerer Zeit gibt es wieder einmal einen Produkttest bzw. einen Erfahrungsbericht von mir, wie immer unbarmherzig subjektiv…

Das Objektiv wurde mir übrigens von TTArtisan nicht “freundlicherweise zugesandt” wie offenbar der Hälfte der Youtube-Influencer, sondern ich habe es aus eigener Initiative bestellt und selbst bezahlt.

Eigentlich hatten mich Fremdobjektive für die Hasselblad X1D nie wirklich interessiert. Solche mit XCD-Bajonett gibt es kaum und das ansonsten übliche und nötige Handling mit verschiedenen Adaptern wirkte eher abschreckend auf mich, auch unter Qualitätsaspekten. Aber als TTArtisan mit dem 1.25/90mm mit XCD-Bajonett auf den Markt kam, bin ich doch neugierig geworden. Kann ein Bokehmonster für CHF 400.- (!) mit einem fast zehnmal so teuren XCD 3.2/90mm konkurrieren? Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist die falsche Fragestellung…

Noch eine kurze Vorbemerkung: Da dies kein klassischer Objektivtest ist, zeige ich auch keine komplett unbearbeiteten Bilder. In diesem Bericht geht es um die gestalterischen Möglichkeiten, die einem dieses Objektiv bietet und da gehört Postprocessing dazu. Ausnahmen selbstverständlich da, wo ich die Abbildungsfehler zeige…

Genug des einleitenden Geschwafels, jetzt gehts in medias res.

Inhaltsverzeichnis

  1. Fertigungsqualität/Haptik
  2. Technische Spezifikationen
  3. Fokussierung
  4. Hasselblad spezifisch
  5. Abbildungsschwächen
  6. Stärken
  7. Praxiserfahrung
  8. Fazit

1. Fertigungsqualität

Die Fertigungsqualität ist einfach nur sagenhaft! Beim ersten Auspacken ist mir das Objektiv fast aus der Hand gefallen, weil es – v.a. im Verhältnis zu seiner relativ kompakten Bauweise – so schwer ist. Ausser dem hinteren Objektivdeckel und der pelzigen Beschichtung der Streulichtblende ist alles Metall und Glas. Nimmt man beide Objektivdeckel ab und öffnet die Blende komplett, hat man den Eindruck, durch ein offenes Metallrohr zu blicken – sehr beeindruckend. Der Blendenring läuft weich und rastet in ganzen und halben Blendenstufen ein. Da hätte ich mir etwas mehr Widerstand gewünscht, damit man auch beim schnellen Verstellen die Klicks blind, d.h. das Auge am Sucher, mitzählen kann (1 Klick = 1/2 Blendenstufe). Der Fokusring hingegen ist supersatt, wie ich es mag, der Verstellbereich erstreckt sich über knapp 180°. Nichts hat Spiel, alles fühlt sich extrem wertig an. Es zaubert mir jedes Mal ein zufriedenes Grinsen ins Gesicht, wenn ich diesen Anachronismus von Objektiv in die Hand nehme. Der vordere Objektivdeckel ist zweiteilig, aus Metall, und wird aufgeschoben (auch hier alles satt und ohne Spiel). Schraubt man ihn auseinander (Ring und Deckel), kann man den Ring umgekehrt aufs Objektiv schrauben und schwups hat man eine Streulichtblende. Eine originelle Lösung, allerdings je nach persönlichem Workflow etwas unpraktisch. Mich stört es nicht, da ich den Objektivdeckel sowieso meistens weg- bzw. die Streulichtblende permanent montiert lasse.

Totaler Durchblick…
Links die Streulichtblende, rechts der Objektideckel, der nur zusammen mit der (umgedrehten) Streulichtblende funktioniert (beide aus Metall).

Ich muss es leider eingestehen, meine um ein Vielfaches teureren Original-Hasselblad XCD-Objektive wirken geradezu billig dagegen, nicht nur optisch, sondern v.a. auch haptisch. Ich weiss schon, der Autofokus und die Elektromotoren verlangen nach möglichst wenig Gewicht und nach extremer Leichtgängigkeit, und das ist halt besser mit Kunststoff zu lösen statt mit Metall. Aber die Dauerhaltbarkeit leidet nachweislich darunter. Z.B löst sich die Gummierung bei meinen XCD-Objektiven teilweise von Objektiv; sowas zaubert mir dann kein Grinsen, sondern ein Stirnrunzeln ist Gesicht.

2. Technische Spezifikationen

Nun ja, der Name des Objektivs verrät die wichtigsten Daten schon. Eine beeindruckende Anfangsöffnung von 1.25 und 90mm Brennweite. Wobei die Bildwirkung aufgrund des grösseren Mittelformatsensors der X1D einem 0.95/70mm am Kleinbild (24×36) entspricht! Es wird mit verschiedenen Anschlüssen angeboten, in meinem Fall mit dem Hasselblad XCD-Bajonett. Der Preis, sofern man diesen als technische Spezifikation bezeichnen kann, liegt je nach aktuellem Umrechnungskurs und Lieferquelle zwischen CHF 400.- und CHF 530.- Es ist ein vollmanuelles Objektiv, d.h. kein Autofokus, keine Automatiken, keinerlei Uebertragungsfunktionen zur Kamera, weder mechanisch noch elektronisch. Die beiden einzigen Informationen, die der Body bzw. der Kamerasensor dem Objektiv “entlocken” kann, sind a) die Blende und b) die Schärfe. In der Praxis bedeutet dies:

a) Der Kamerasensor kann zwar nicht direkt die Blende ablesen, aber die Helligkeit. Sobald am Objektiv die Blende verstellt wird, ändert sich auch die Menge des Lichts, das auf den Sensor fällt. Mit anderen Worten: Zeitautomatik/Blendenpriorität funktioniert. Die Verschluss-Blende-Thematik ist bei Hasselblad aufgrund des bei den Original XCD Objektiven üblichen Zentralverschlusses sowieso etwas speziell, in Abschnitt 4 dann mehr zu dem Thema.

b) Auch hier erkennt der Sensor nicht wirklich “Schärfe” sondern nur, wie stark ein Kontrast ist, z.B. an Kanten. Dies wird dann für die elektronischen Fokussierhilfen wie z.B. “Focus-Peaking” genutzt. Auch hierzu mehr Infos in Kapitel 3.

Das XCD-Bajonett: Weder mechanische noch elektronische Uebertragungselemente

3. Fokussierung

In der Prä-Autofokusära waren die meisten Spiegelreflexkameras mit einem in der Mattscheibe integrierten Schnittbild-Indikator ausgerüstet. Das hat eigentlich recht gut und präzise funktioniert, allerdings gab es früher auch kein “Pixel-Peeping”. Wenn das Bild in der üblichen Ausgabegrösse oder auf der Dia-Leinwand einen einigermassen scharfen Eindruck hinterliess, war man zufrieden. Heute, wo alle digitalen Bilder gnadenlos am Bildschirm auf 100% vergrössert werden, um die Schärfe pixelgenau zu prüfen, sind die Anforderungen gestiegen. Bzw. die Definition, was als “noch scharf” oder “schon unscharf” betrachtet wird, hat sich verschoben.

Die modernen Digitalkameras mit elektronischem Sucher haben jetzt zwar keinen Schnittbild-Indikator mehr, dafür andere Fokussierhilfen: 100%-Vergrösserung bereits auf dem Screen bzw. im Sucher sowie Focus-Peaking. Ersteres ist mit Abstand die genaueste Methode für eine punktgenaue Schärfe, ist allerdings in der Praxis manchmal schwierig anzuwenden. Bereits bei 90mm braucht man eine ruhige Hand, um den vergrösserten Ausschnitt ruhig im Sucher zu halten. Ausserdem verliert man den Gesamtüberblick über das Bild bzw. den Bildaufbau während des Scharfstellens. Die zweite Methode, das Focus-Peaking, ist in der Praxis unkomplizierter anzuwenden, dafür meiner Erfahrung nach aber nicht so genau bzw. zuverlässig. Focus-Peaking heisst, die Kameraelektronik erkennt aufgrund des Mikrokontrastes Kanten und zeigt diese im Sucher mit einer farbigen Markierung an. Bei guter Beleuchtung und klaren Kanten kein Problem; bei kontrastarmen Motiven problematisch. Auch Scharfstellen auf die Augen bei einem Portrait kann schwierig werden, da die Augen ja häufig etwas im Schatten liegen und u.U. sehr wenig Kontrast aufweisen. Ob das jetzt ein spezifisches Problem der Hasselblad ist oder ein systembedingtes weiss ich ehrlicherweise nicht.

Mit anderen Worten, es gibt keine universelle Methode, die für alle Gelegenheiten funktioniert, es hängt von der jeweiligen Situation, dem jeweiligen Motiv und natürlich den persönlichen Vorlieben ab.

Entschärfen kann man obige Problematik mit grosszügigem Abblenden. Dann nimmt die Schärfentiefe zu und kleine Abweichungen in der Schärfe-Ebene fallen gar nicht mehr auf. Aber ehrlich, wozu kaufe ich mir ein hochlichtstarkes Objektiv, wenn ich damit dann doch abgeblendet fotografiere? Da könnte ich ja gleich bei meinem XCD 3.2/90mm bleiben…

Man muss sich schon etwas auf das Objektiv bzw. die manuelle Scharfstellung einlassen, dann steigt auch die Erfolgsquote an scharfen Bildern.

4. Hasselblad spezifisch

Das TTArtisan 1.25/90mm wurde ursprünglich für den Leica M-Mount entwickelt (die Ähnlichkeit im Design zum CHF 13’000.- teuren Leica Summilux 1.5/90mm Asph. ist nicht ganz zufällig, um nicht zu sagen unverschämt… 😉 ). Später kamen dann Anschlüsse für weitere spiegellose Kameras/Marken hinzu, zuletzt eben für das Hasselblad XCD-Bajonett. Letzteres tanzt insofern aus der Reihe, als die Hasselbladgehäuse ja keinen mechanischen Verschluss besitzen. Sowohl Blende wie auch (Zentral-) Verschluss sitzen in den Objektiven. Das hat zur Konsequenz, dass das TTArtisan an der Hasselblad ausschliesslich mit dem elektronischen Verschluss betrieben werden kann. Und dieser hat ein paar Eigenheiten, die man wohl beachten sollte: Banding (Streifenbildung) und Rolling Shutter (verzerrte Wiedergabe).

Das Layout bzw. die Beschriftung sind wohl nicht ganz unbeabsichtigt demjenigen des Leica M-Systems nachempfungen…

Banding kommt meines Wissens nach nur bei Kunstlicht vor; wer schon einmal das Fernsehbild oder den Computermonitor abfotografiert hat, kennt den Effekt. Vermeiden kann man das relativ einfach mit längeren Belichtungszeiten, so ab 1/30 Sek und länger (hängt von der Frequenz der jeweiligen Kunstlichtquelle ab).

Sieht aus wie der Schatten einer Jalousie, ist aber Banding. In diesem Bild sehr krass, da mit einer Verschlusszeit von 1/500 Sek. aufgenommen
Das gleiche Motiv mit einer Verschlusszeit von 1/30 Sek aufgenommen. Wenn man ganz genau hinsieht, kann man noch Reste von Banding erkennen. Weiteres Verlängern der Verschlusszeit beseitigt dieses dann komplett.

Der Rolling Shutter Effekt ist deutlich schwieriger zu vermeiden. Er entsteht dadurch, dass beim elektronischen Verschluss das Bild nicht als Ganzes auf einmal belichtet wird, sondern zeilenweise. Das bedeutet, wenn sich das Objekt oder die Kamera während der Belichtung bewegt, kann das zu einer verzerrten Darstellung führen. Sportfotografie z.B. ist damit natürlich nicht sinnvoll möglich. Selbst beim Fotografieren von statischen Motiven muss man aufpassen, dass man die Kamera (aufgrund des fehlenden akustischen Feedbacks) nicht zu früh vom Auge nimmt.

So sieht der Rolling-Shutter Effekt aus bei sich bewegenden Motiven
Und so sieht das Ergebnis aus, wenn man die Kamera zu früh, d.h. während des Ausleseprozesses vom Auge nimmt oder sonstwie bewegt

Der Wechsel zwischen dem TTArtisan und den originalen XCD-Objektiven wird dadurch etwas umständlich, da man bei jedem Objektivwechsel immer auch die Kameraeinstellungen anpassen muss. Zwar kann man verschiedene “Custom”-Einstellungen abspeichern, aber man muss halt trotzdem immer daran denken.

Allerdings hat der elektronische Verschluss auch Vorteile. Das fehlende akustische Feedback bei der Auslösung heisst nämlich auch, dass das Fotografieren tatsächlich lautlos ist, was in gewissen Umgebungen durchaus sinnvoll sein kann (Kirche, Konzert). Ein weiterer Vorteil sind die extrem kurzen Verschlusszeiten, die damit möglich sind. Wenn man an einem sonnigen Tag mit Blende 1.25 fotografiert, können auch mal Verschlusszeiten von 1/10000 Sek oder kürzer resultieren, die mit dem mechanischen Verschluss nicht möglich wären.

5. Abbildungsschwächen

Es ist logisch und nachvollziehbar, dass man mit der Kombination aus “hochlichtstark” und “preiswert” gewisse Kompromisse bei der Abbildungsleistung eingehen muss. Konkret sind dies: Vignettierung, lila Farbsäume, Verzeichnung, Flares sowie Schärfe/Kontrast im Nahbereich und am Bildrand bzw. in den Ecken.

Die Vignettierung ist beim grösseren Mittelformatsensor der X1D logischerweise ausgeprägter als beim Kleinbildformat. In der Nachbearbeitung korrigieren lässt sich das nur manuell. In Lightroom z.B. gibt es kein hinterlegtes Objektivprofil, um Abbildungsfehler automatisch zu korrigieren. Meistens reicht der Vignettierungsregler im Reiter “Objektivkorrekturen” in Lightroom. Die Vignettierungsfunktion im Reiter “Effekte” ist dafür erfahrungsgemäss weniger geeignet.

Bild ohne Korrektur der Vignettierung
Bild nach der Korrektur. In diesem Fall recht gut gelungen. Es gibt aber auch Situationen, wo die Vignettierung nicht komplett korrigierbar ist. Das liegt aber sicher auch am grösseren Mittelformatsensor.

Lila Farbsäume treten v.a. bei Gegenlicht auf. Das TTArtisan ist recht anfällig dafür, eine Korrektur in der Nachbearbeitung aber gut möglich.

Bereits im Vollbild sind die lila Farbsäume oben rechts sichtbar
Hier in der Vergrösserung sehr deutlich sichtbar
Hier die korrigierte Version

Die Verzeichnung fällt v.a. bei geraden Linien im Randbereich auf, also z.B. bei Architektur. Bei Landschaftsfotos oder Portraits nicht so relevant.

Eigentlich sind die beiden Metallstange absolut gerade… 😉

Flares entstehen, wenn sich eine Gegenlichtquelle im Bild oder knapp daneben befindet. Sie lassen sich praktisch nicht korrigieren in der Nachbearbeitung, man muss damit leben, bzw. zu vermeiden suchen. Oder als Gestaltungsmittel einsetzen… Ob die Anfälligkeit des TTArtisan an der zu kurzen Streulichtblende oder der mangelnden Objektivbeschichtung liegt, kann ich nicht sagen.

Der meiner Meinung nach grösste Kompromiss muss im Nahbereich eingegangen werden. Eigentlich ist es schon kein Kompromiss mehr, sondern schon ein richtiges Manko. Die Naheinstellgrenze von rund einem Meter ist an sich schon recht gross und die Abbildungsleistung auf diese Distanz bei offener Blende einfach nur schlecht: Kontrastarm, flau, unscharf. Abblenden hilft (siehe Beispielbilder), aber das TTArtisan ist definitiv kein Objektiv für den Nahbereich. Was natürlich schade ist, denn gerade im Nahbereich könnte man mit einem Mini-Schärfebereich von wenigen Millimetern aussergewöhnliche Effekte erzielen.

Erwartungsgemäss fällt Kontrast und Schärfe im Randbereich und in den Ecken deutlich ab, v.a. bei offener Blende. Abblenden hilft auch in diesem Fall, aber nur begrenzt.

6. Stärken

Die grösste Stärke dieses Objektive wird wohl bei den meisten auch der hauptsächliche Grund für den Kauf sein: Die krasse Offenblende und die daraus resultierende Bildwirkung. Bei Blende 1.25 ist es ein wahres Bokehmonster. Bei natürlichen, organischen Strukturen ist das Bokeh butterweich und cremig. Eckige Objekte und gerade Kanten wirken manchmal etwas unruhig. Bei Kunstlichtquellen kann das Bokeh u.U. auch leicht zitronenförmig ausfallen statt rund.

Bokeh mit geraden Strukturen (Gräser)
Hier ist das Bokeh supersoft

So weit so erwartbar. Was mich jedoch wirklich erstaunt und sehr positiv überrascht hat, ist die exzellente Schärfe im Zentrum, selbst bei f1.25 (Nahbereich ausgenommen, wie oben erwähnt).

Das ist ein Crop vom vorherigen Bild. Die Schärfe auf den Blüten ist tadellos und dabei ist das Motiv nicht einmal im Zentrum. Auch hier das Bokeh supersoft im Hintergrund.

Und last but not least möchte ich auch die in Kapitel 1 bereits höchstgelobte Verarbeitungsqualität nochmals hervorheben.

7. In der Praxis

Technische Specs sind das eine, praktische Erfahrung das andere. Gewisse Dinge merkt man erst, wenn man “richtig” fotografiert und andere Dinge, die man im Vorfeld für wichtig hielt, treten völlig in den Hintergrund. Das ist bei diesem Objektiv nicht anders, eigentlich sogar besonders ausgeprägt.

Nach einigen Testbildern im heimischen Wohnzimmer, wo ich v.a. die oben erwähnten Fokussiertechniken und Abbildungsschwächen ausgetestet habe, war ich sehr gespannt, wie sich die Kombi Hasselblad X1D und TTArtisan 1.25/90mm draussen schlagen würde, “real world” sozusagen.

Auf der ersten Fototour habe ich einfach wie üblich mir geeignet scheinende Motive drauflos fotografiert. Mit verschiedenen Blenden, auf verschiedene Distanzen und verschiedene Motive. Allerdings klar mit Schwerpunkt “Offenblende”. Zuhause habe ich die Bilder am grossen Monitor analysiert und die Ergebnisse mit meinen Erkenntnissen der ersten Wohnzimmerbilder verglichen. Im weiteren Verlauf haben sich dann ein paar Punkte herauskristallisiert, die es m.E. beim Fotografieren mit diesem Objektiv besonders zu beachten gilt.

Als erstes ist natürlich das manuelle Fokussieren zu erwähnen. Vor 30 Jahren noch Standard, ist es heute «Steinzeit-Technik» und man muss sich (wieder) daran gewöhnen. Für mich hat sich folgendes Vorgehen bewährt: Schnelles und grobes Vorfokussieren mit «Focus-Peaking» und anschliessendes Feinfokussieren mit der Vergrösserungsfunktion. 

Zweiter Punkt ist die Erkenntnis, dass dieses Objektiv (für mich!) gar keinen Blendenring bräuchte, da ich es sowieso ausschliesslich offenblendig nutze. Die in Kapitel 5 erwähnten Abbildungsschwächen treten unter diesen Umständen völlig in den Hintergrund und es dominiert die 3D-Bildwirkung. Mache ich hingegen klassische Landschaftsfotografie mit grosser Tiefenschärfe, fallen diese Fehler viel mehr auf. Hhm…, Moment, oben hatte ich doch erwähnt, dass die Bildfehler schwächer werden, je weiter man das Objektiv abblendet…? Richtig, aber eben nur relativ. Will heissen, bei Bildern mit geschlossener Blende und «normaler» Anmutung fällt die Bildqualität gegenüber dem Hasselblad XCD 3.2/90mm sichtbar ab. Die Original Hasselblad Optik ist dem TTArtisan bei jeder Blende überlegen – ausser eben bei Blendenöffnungen >f3.2, weil ersteres diese gar nicht hat.

Ein weiterer Punkt ist die optimale Motiv-Auswahl. Beim Thema «lichtstarkes Objektiv» und «Freistellung» denkt man als erstes an die klassischen Freisteller-Motive: Portrait vor Stadtkulisse oder einzelner Baum vor Alpenpanorama. Also immer ein Hauptobjekt vor einem mehr oder weniger unendlichen Hintergrund. Natürlich bringt eine Blendenöffnung von f1.25 nochmals deutlich mehr Unschärfe bzw. Bokeh in den Hintergrund als z.B. f2.8; wirklich sichtbar wird das aber fast nur im direkten Vergleich. Die beeindruckendste Bildwirkung entsteht meiner Meinung nach, wenn im Bild mehrere Schärfeebenen existieren. Also in den obigen Beispielen nicht eine Person oder ein Baum, sondern mehrere Personen oder mehrere Bäume jeweils in verschiedener Distanz und somit verschiedener Schärfe/Unschärfe. Dann entsteht eine unglaubliche Tiefenwirkung, ein regelrechter Sog ins Bild!

Hier nochmal das Bild der Tafel. Blende f1.25
Dasselbe Bild mit Blende f3.2, der Anfangsöffnung des Hasselblad XCD 3.2/90mm. Der Unterschied ist im direkten Vergleich deutlich, aber ohne diesen fällt dies wohl nur dem geschulten Auge auf.
Hier sieht man deutlich die verschiedenen Schärfe-/Unschärfe-Ebenen
Hier sogar noch besser
Auch hier sticht der Schärfe-/Unschärfeverlauf nach hinten ins Auge

Zum Thema Portraits: Meine Vermutung oder Hoffnung, dass sich das TTArtisan als perfektes Portrait-Objektiv erweisen würde, hat sich leider nur zum Teil bewahrheitet. Die fehlende Schärfe und der flaue Kontrast im Nahbereich mag für eine gewisse Art von Portraits ja noch durchgehen oder sogar erwünscht sein. Das wirkliche Problem ist die winzige Schärfentiefe bei Offenblende in Verbindung mit manueller Fokussierung. Punktgenaues Scharfstellen mittels der 100%-Vergrösserung auf die Pupille des Models (Focus Peaking ist hier viel zu ungenau) ist zwar machbar, aber wehe das Model bewegt sich im Moment zwischen Scharfstellen und Auslösen auch nur um einen Millimeter… Manchmal reicht sogar das minimale Verschwenken der Kamera zur definitiven Ausschnittwahl, um die Pupille aus dem Schärfebereich heraus zu bewegen. Bei zwei Personen im Bild ist es praktisch unmöglich, beide im Schärfebereich zu halten. Sogar beim Frontalportrait einer Person kann es sein, dass ein Auge scharf und das andere bereits leicht unscharf ist, wenn das Gesicht nicht perfekt rechtwinklig zur Objektivachse angeordnet ist. D.h. man braucht nicht nur ein sehr geduldiges Model, sondern sollte sich auch sorgfältig um die Position und Pose desselben kümmern (siehe dazu auch vorherigen Abschnitt). Wohlgemerkt, ich sage nicht, man kann keine Portraits mit dem Objektiv machen. Wenn alles passt, gibt es tolle Ergebnisse, aber der Ausschuss ist enorm.

8. Fazit

Obwohl Kapitel 5 (Schwächen) deutlich länger ist als Kapitel 6 (Stärken), hat TTArtisan eigentlich alles richtig gemacht. Tolles Bokeh und Schärfe im Zentrum in Verbindung mit sagenhafter Fertigungsqualität und dies zu einem äusserst moderaten Preis. Alle übrigen Eigenschaften wie Bildqualität in den Ecken, Automatikfunktionen, Autofokus, Verzeichnung etc. hätten den Preis extrem in die Höhe getrieben. Beim Leica Summilux-M 1.5/90mm, dem das TTArtisan auch äusserlich nachempfunden ist, sind genau diese Schwächen ausgemerzt und es ist voll alltagstauglich – zum Preis von rund CHF 13’000.-!

Und somit ist ist auch klar, warum die Eingangsfrage „kann das TTArtisan mit dem XCD 3.2/90mm konkurrieren?“ falsch gestellt ist: Die beiden Objektive spielen auf verschiedenen Plätzen. Sie konkurrieren sich nicht, sie ergänzen sich.

Das TTArtisan 1.25/90mm ist kein Dokumentationsobjektiv, sondern ein Traumfänger. Wer ein technisch einwandfreies Allround-Objektiv sucht, wird mit dem TTArtisan nicht glücklich. Wer eine Linse für spezielle Momente und etwas andere Sehgewohnheiten sucht, wird viel Spass mit dem Teil haben.

Generelle Eigenschaften

  • Eher geeignet für Landschaft und Natur, nur bedingt für Portrait und Architektur
  • Objektivdeckel/Streulichtblende pfiffig, aber speziell
  • Voll manuell, null Kommunikation zwischen Objektiv und Kamera
  • 90/1.25 ergibt am kleinen MF ca. 70/0.95!

Pro

  • Bokehmonster (Lichtflecken teilweise zitronenförmig, nicht rund)
  • Schärfe im Mittel- und Fernbereich erstaunlich gut
  • Krasse Fertigungsqualität, schwer, alles Metall und Glas
  • Zeitautomatik bzw. Blendenpriorität funktioniert, da der elektronische Sucher die voreingestellte Blende bzw. die Lichtmenge, die auf den Sensor fällt, erkennt und nachregelt.
  • Erschwinglicher Preis

Kontra

  • Vignettiert (v.a. am Mittelformat-Sensor), in Grenzen korrigierbar
  • Verzeichnung
  • Lila Farbsäume im Gegenlicht, aber gut korrigierbar (Purple Fringing)
  • Bokeh von geraden Kanten etwas unruhig
  • Schärfe/Kontrast im Nahbereich grottig
  • Nicht gedichtet, also Vorsicht im Regen
  • Fokussieren tricky bei Offenblende, nur wenige Millimeter Schärfebereich
  • Focus Peaking teilweise ungenau (Problem X1D?), v.a. Augen bei Portraits
  • Hasselblad spezifisch: Nur mit elektronischem Verschluss, d.h. Probleme mit Rolling shutter und Banding (Streifenmuster bei Kunstlicht). Dafür kürzere Belichtungszeiten möglich (und nötig…)

Zum Schluss noch eine Galerie mit weiteren Bildern ohne Kommentar; alle mit Blende f1.25 und bearbeitet:


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